Otto und der 1. Mai
Für Otto, unseren Hilfsküster und Friedhofswärtergehilfen, stand der morgige erste Maitag ranggleich neben dem ersten Weihnachts- und Oster- und Pfingsttag. Am ersten Mai hatte Otto bei Kirchens frei und dafür Dienst als Ordnungshüter seiner Gewerkschaftskundgebung auf dem größten Platz des Ortes.
Später, im großen Umzug durch die Innenstadt mit Musik hinten und Musik vorne, da schwenkte er eine der Gewerkschafts-Fahnen ähnlich stürmisch im jeweils lautesten Rhythmus. Otto schwenkte sie wie sein lieber Heiland seine Fahne auf dem österlichen Auferstehungsbild, das über Otto's Bett hing.
Gleich neben Jesus mit der wild gebauschten Fahne im Wind mit mindestens Windstärke sieben hatte Otto eine Urkunde mit vier Stecknadeln angepinnt, die ihm ein Vierteljahrhundert Mitgliedschaft im Gesangverein ehrenvoll bestätigte. Den Text von Ottos Urkunde hatte ich viele Male gelesen, als ich lesen lernte, und noch häufiger hatte Otto sie mir vorgelesen, seine Urkunde.
Grammatikalisch war mir nie klar geworden, wem die Urkunde die Ehre gab: Der Gesangverein unserem Otto oder Otto seinem Chor. Das stürmische Jesus-Bild mit Fahne allerdings hing etwas höher als seine Urkunde. Darin machte Otto schon einen kleinen Unterschied. Aber nicht zwischen dem 1. Mai und Weihnachten.
Am Vorabend des 1. Maitages, jeweils an einem Tag wie der heutige, an jedem 30. April reihte sich Otto unter die halb und erwachsene Jugend und half mit beim Schmücken und Aufrichten des Maibaumes. Er sang mit, er hauruckte mit und abends war sein Mitsingen schon ein wenig nölig bis gröhlig. Er vertrug kaum Alkohol, aber er genoss: den 1. Mai, das Singen, den guten Schluck und die Vorfreude auf Kundgebung, seine Fahne und die Musik.
Otto wusste nichts Näheres von der Geschichte des Mai im Blick auf seine Mythen, seine Auswirkung auf Sexualhormone, auf politische Unruhen zwischen 755 n. Chr. und 1849. Otto wirkte in seiner leichteren geistigen Behinderung geradezu andächtig bei den Kundgebungen, weil sie ihm ähnlich vorkommen mussten wie Festtagspredigten in seiner Kirche.
Er war ausnehmend musikalisch und sang die Internationale ebenso leidenschaftlich mit wie die Abendmahlsliturgie. Und er wusste in seinem Ahnen ganz sicher mehr von Mai als Festzeit als wir, die wir morgen unsere Autos herausholen und bestenfalls weniger schnell fahren – wegen der Spritkosten. Oder die wir französischem Spargel die Köpfe abbeißen müssen, weil unser eigener entwicklungsgehemmt ist. Oder die wir eine CD auflegen mit Frühlingsliedern wie dem (in der Melodie) aus einem Bevensener Pfarrhaus stammenden „Der Mai ist gekommen...“ statt das Lied selbst zu schmettern.
Otto wusste nichts, aber ahnte alles. Schließlich war er auch an einem 1. Mai geboren. Dies aber kriegten wir erst heraus, als wir die für sein Sterben nötigen Formulare beim Standesamt einholten. Denn Otto war mit seiner Behinderung verheimlicht worden im großen Dritten Reich und der Euthanasie nur durch Kastration entgangen. Der Mai freute ihn - vielleicht deshalb.
30. April 2001